Fatma Aydemir
20-10-2017

Ich bin in einem kleinen Dorf in Süddeutschland aufgewachsen, fünf Minuten von der Frankreichgrenze entfernt. Richtig bewusst wurde mir die geografische Lage meines Zuhauses erst mit achtzehn als ich einen Führerschein hatte. Immer wieder fuhren wir mit Freunden in die nächste Kleinstadt hinter der Grenze, in der sich eine Filiale der französischen Supermarktkette Super U befand. Wir kauften dort Kekse und Limonaden, die es in Deutschland nicht gab. Es waren gar nicht spezifische Produkte, nach denen wir suchten. Wir kauften jedesmal etwas anderes, hauptsache fremd. Denn es verlieh uns ein besonderes Gefühl der Freiheit, innerhalb nur einer halben Stunde einen Auslandstrip gemacht zu haben und sogar Souvenirs mitzubringen.

Dass nun das Festival in Den Haag, das ich als Beobachterin begleiten darf, „Crossing Borders“ heißt, stimmt mich insofern irgendwie nostalgisch. Weil ich an die Kekse von Super U denken muss. Aber auch, weil ich das Gefühl habe, dass das Überqueren von Grenzen etwas gestriges hat. Natürlich stimmt das nicht. In Zeiten von Brexit und dem Unabhängigkeitskampf der Katalonen gewinnen Grenzen wieder zunehmend an Bedeutung. Menschen entscheiden sich per Referendum für neue Grenzen, sie gehen auf die Straße für sie, riskieren ihre Freiheit.

Und dann gibt es noch solche Grenzziehungen, die nicht gerade erwünscht waren, und deren Überwindung ein Leben kosten kann. Ich erinnere mich, wie ein sehr guter Freund mir erzählte, wie seine Mutter auf dem Weg von Aleppo nach Antakya an mehreren Checkpoints vorbeimusste, die neue Grenzen in einer uralten Region markierten. Vor gewissen Checkpoints musste sie sich verschleiern, hinter der türkischen Grenze, nahm sie den schwarzen Stoff, der ihren Körper versteckte wieder ab. Er zeigte mir Fotos von ihr, wie sie sich kaputt lachte, als beriete sie sich auf eine lächerliche Kostümparty vor.

Es ist kompliziert mit der Grenze. Sie lässt sich nicht per se für gut oder für schlecht erklären. Erst vor zwei Sommern sahen wir Hunderttausende von Menschen zu Fuß durch Europa ziehen, um die Grenze zu einem lebenswerten Umfeld zu erreichen. Es gibt zig Minderheiten auf der Welt, etwa Kurden in der Türkei, die seit Jahrzehnten um ihre Autonomie kämpfen, weil sie unterdrückt werden und eine Grenze ihnen Schutz bieten könnte. Es gibt Länder wie Georgien, das seit 1989 unabhängig ist, aber dessen Grenzen trotzdem regelmäßig verschoben werden, mit grober Gewalt.

Dass die Verbindung von Musik und Literatur sowie das internationale Line-Up auf diesem Festival als Grenzüberschreitung begriffen wird, hat insofern etwas durchaus zeitgenössisches. Denn in Zeiten von verhärtenden und sich vermehrenden Grenzen, gilt es um so mehr durch Kunst und durch Kollektivität die Begrenzungen in unserem Denken und Empfinden zu hinterfragen, sie abzutasten, und vielleicht sogar einen Schritt über sie, auf die andere Seite zu wagen. Schließlich sind sie da, um überquert zu werden.

Fatma Aydemir
19-11-17

„Es ist schrecklich, was in der Türkei gerade passiert.“

„In Den Haag kann man sehr gut asiatisch essen.“

„Warum steht da ein Klavier?“

„Der letzte Zug nach Amsterdam geht um 23.20 Uhr.“

„Lass uns nicht über Erdogan sprechen.“

„Ich habe nichts gegen Feminismus, ich habe nur etwas gegen weißen Feminismus.“

„Warum schreibst du nicht auf türkisch?“

„Ich dachte immer die Deutschen seien kleinlich, aber die Holländer sind auch darin besser.“

„Jede dritte Frau sieht aus wie Marine Le Pen.“

„Berlin ist eine Stadt, in der man gut allein zurecht kommt.“

„Alle Holländer verstehen Deutsch.“

„Der Text kam eine halbe Stunde zu spät.“

„Kann man Bildende Kunst auch Teilzeit studieren?“

„Wir haben uns leider verpasst.“

„Bis zur Uni habe ich nie in meinem Leben Kaffee getrunken.“

„Normalerweise hasse ich Festivals, aber das hier ist echt okay.“

„Wo kauft man in Berlin Gras?“

„Wir haben uns über das Internet kennengelernt.“

„Lass uns im Buchladen schauen, ob sie mein Buch haben.“

„Marokkaner sind nicht so eng vernetzt wie Türken.“

„Das habe ich nicht so gemeint.“

„Was liest man in Holland gerade?“

„Ich mache eine Residency im Seniorenheim.“

„Diese Band ist so gut, ich kann einfach nicht gehen.“

„Ich verstehe diesen Satz nicht.“

„Warum bin ich immer so müde?“

„Wenn ich diese Show sehe, habe ich das Gefühl, ich benutze nicht einmal fünf Prozent meines Körpers.“

„Lass uns treffen, wenn du in Amsterdam bist.“

„Mein Buch wird gerade in Türkische übersetzt.“

„In diesem Raucherraum riecht es echt schlimm.“

„Willst du noch ein Bier?“

„Ich bin seit einer Woche verheiratet.“

„Das Frühstück ist echt gut.“

„Es ist eigentlich schwarz und nicht blau.“

„Ist noch etwas vom Catering übrig?“

„Dein Kleid ist toll.“

„Keine Ahnung, worüber ich schreiben soll.“

„Es ist ganz egal, ob es stimmt, ich schreibe Fiction.“

„Warst du schon am Meer?“

„Ich kann nicht schlafen, wenn ich zuviel gekifft habe.“

„Seit vier Stunden essen wir.“

„Soll ich dir einen Tipp geben?“

„Nein.“

„Ich kenne mich nicht aus mit lateinamerikanischer Literatur.“

„Dein Text ist sehr schön geworden.“

„Ich habe es vermisst einsam zu sein.“

„Der Übersetzer muss auch eigene Entscheidungen treffen.“

„Hema ist der beste Laden der Welt.“

„Hast du eine Zigarette, schöne Frau?“

„Hier gehen die Leute gerne feiern.“

„Es ist so eine Betriebsveranstaltung, keine große Sache.“

„Okay, du musst das gleiche nochmal sagen, aber kürzer.“

„Say my name, say my name.“

„I am flying to Dublin but I still have 5 hours or so.“

„Willst du diesen Satz nicht lieber auf englisch schreiben?“

„Literatur entseht aus Literatur.“

„Ich weiß, ich schaue so, als sei es furchtbar schwer, dorthin zu finden, ist es aber nicht.“

„Findest du den Weg zurück?“

05-11-17

„Hast du ein Buch gekauft?“

„Ja“, sage ich überglücklich.

(Ich bin nämlich ein bisschen kaufsüchtig.)

„Welches denn?“

„Es ist von Margo Jefferson. Sie ist auch hier auf dem Festival.“

„Cool. Wie heißt es?“

„Sorry?“ sage ich, als hätte ich die Frage nicht verstanden.

„Wie heißt das Buch?“

„Ähm.. es sind ihre Memoiren.“ Ich zögere. „Warte, ich zeige es dir.“

Zustimmendes Nicken, interessierter Blick.

Am Abend darauf, auf dem Weg zum Humanity House, beginnt es in Strömen zu regnen. Ich finde Zuflucht in einer Tiefgarageneinfahrt, rauche eine Zigarette und höre zu. Das Prasseln der Regentropfen. Fluchende Mädchen auf dem Nachhauseweg. Türkische Popmusik aus einem vorbeifahrenden Auto. Es regnet weiter. Ich krame das Buch, dessen Namen ich nicht aussprechen kann, aus meiner Tasche, schlage es auf:

„I was taught to avoid showing off.“

Ein wahnsinnig starker Satz. Ein erster Satz, in dem die ganze Geschichte steckt: Privilegien, Status, die Angst vor Verlust. Auf dem Cover eine lächelnde Frau im schicken Kostüm. Weiße Handschuhe. Die 50er-Jahre.

Ich sitze auf den Holztreppen des Humanity House und starre auf Margo Jeffersons saphirblaue Schuhe. Die 70-Jährige kleidet sich schlicht und ziemlich cool. Ihr Afro strahlt in Gold, wie die Krone einer Königin. Als sie klein war, musste sie sich die Haare glätten lassen, erzählt uns Jefferson direkt zu Beginn. Das sei ihren Eltern sehr wichtig gewesen.

„Wir mussten nicht nur weiß aussehen. Es war ein sehr spezifischer weißer Look, an dem wir uns orientierten.“

Die afroamerikanische Theaterkritikerin ist in einer Upper-Middle-Class Familie im Chicago der 50er-Jahre aufgewachsen. Sie wohnte in einer guten Gegend, ging auf eine gute Schule und hatte weiße Freundinnen – ganz im Gegensatz zu den meisten anderen schwarzen Kinder ihrer Generation. Und genau davon handelt Jeffersons Buch im Grunde. Von einem Leben, das dem Stereotyp widerspricht, und doch immer wieder mit dem Stereotyp zu kämpfen hat. Von der Überlagerung ethnischer Herkunft durch die soziale Schicht.

Sie erzählt, wie ihr beigebracht wurde, in Sprache und Benehmen so wenig wie möglich aufzufallen, so perfekt wie möglich zu sein.

„Hatte ich eine schlechte Note in der Schule, sagte meine Mutter: ‘Jetzt denkt dein Lehrer, schwarze Kinder sind dumm.’ Wir waren Stellvertreter für eine ganze Bevölkerungsgruppe. Alles, was wir taten, war symbolisch“, sagt sie.

Später war Jefferson aktiv in der Black-Power-Bewegung. Ihre privilegierte Kindheit hielt sie letztlich nicht davon ab, gegen ungleiche Machtverhältnisse zu protestieren. Als Frau, als schwarze Frau erfährt sie Unterdürckung nämlich auch in so genannten „aufgeklärten“ Kontexten.

Der Buchtitel, den ich nicht aussprechen kann, lautet übrigens: „Negroland“. Und Jefferson entlehnte ihn aus eben jener selbstermächtigenden Zeit, in der die Black-Power-Bewegung das Wort „Negro“ (mit großem N) als politischen Begriff verwendete. Später wurde aus der Selbstbezeichnung „Negro“ irgendwann „Black“, und schließlich „Afroamerican“. Doch will der Buchtitel, erklärt Jefferson, explizit eine bestimmte historische Periode beschreiben.

„Und ja, er will unbequem sein.“

Ich glaube, ich werde nicht die einzige sein, die beim Lesen in der Straßenbahn darüber nachdenkt, den Titel zu verdecken.

04-11-17

„War er Holländer?“ fragt er mich.

Wir sitzen beim Abendessen in einer ehemaligen Kirche. Es gibt Weißkohlsalat.

„Ich denke schon, aber keine Ahnung, wir sprachen ja auf englisch,“ antworte ich.

„War sein Englisch gut?“

Ich denke nach.

„Ja, also.. Klar. Nicht schlechter als meins.“

„Aber war er Holländer?“ fragt er wieder.

„Woran soll ich denn erkennen, ob er Holländer war?“

„Sah er denn aus wie ein Holländer?“

Ich bin verwirrt.

„Wie sieht ein Holländer aus?“

„Na, wie ich,“ antwortet er.

Ich mustere ihn und trinke einen Schluck Sprite.

Der erste Festivalabend pulsiert und riecht nach Bier. Eine Flasche fällt zu Boden, ein muskulöser Mann schiebt mich zur Seite, um seine Geliebte, die an der Bar arbeitet, zu küssen. Pinkes und neongelbes Licht wird an Fassaden geworfen, damit wir auf den ersten Blick erkennen, welches die Festivallocations sind. Wir lesen Stories von Autos und vom Putzen und Sterben und von geklauten Lippenstiften und dem Leben selbst. Ich schließe die Augen.

Ich öffne sie. Sytske und ich sitzen auf einer kalten Steintreppe am Eingang des Paard. Ich krame zwei Zeitschriften aus meiner Tasche, auf die wir uns setzen können, damit wir keine Blasenentzündung riskieren. Sytske sitzt auf dem Missy Magazine (das in Berlin verlegt wird, dort, wo ich lebe), ich sitze auf De Groene Amsterdammer (aus der Stadt, in der Sytske wohnt). Wir unterhalten uns darüber, wie schwer es ist, öffentlich über eigene Texte zu sprechen.

„Ich will nicht reden. Deshalb schreibe ich ja“, sagt Sytske und zieht an ihrer Zigarette.

Ich muss lachen. Weil sie Recht hat. Natürlich kann auch ich nicht mit jeder Person ehrlich über mein eigenes Schreiben sprechen. Aber Leute haben Fragen. Meistens sogar dieselben. Deshalb denke ich mir ein paar Antworten aus und wiederhole sie immer wieder. Systke sagt, das sei eine gute Lösung.

Wir gehen rein. Im Heartbreak Hotel spielen Massih Hutak und Kerem Özilhan. Sie rappen auf niederländisch über Flüchtlinge. Zumindest ist das das einzige Wort, das ich verstehe. Der Song ist aber gar nicht melancholisch oder wütend. Im Gegenteil, Leute tanzen. Sytske übersetzt mir ins Ohr: „Die Niederlande ist so schön, dass ich ständig weinen muss.“ Wir grinsen einander an. Nicht, dass ich nicht zustimmen würde. Holland ist natürlich wunderschön, für mich, als Touristin. Aber ich mag die beißende Ironie von einem, der Holland wahrscheinlich so gut wie kein anderes Land kennt, aber der nicht als „Holländer“ gilt. Nach bestimmten Kriterien zumindest. (Er ist nicht weiß.)

Für einen Song von Pink Occulus will ich noch bleiben, aber als sie auf der Bühne ist, schaffe ich es nicht mehr zu gehen. Sie trägt ein goldenes Kleid, hat eine wahnsinnig berührende Stimme und tanzt wie eine Göttin. Ich fühle mich an alle Songs und Sängerinnen erinnert, die ich mit 16 laut aufgedreht habe, wenn ich traurig war und meine Zimmertür abschloss. Es ist wie Hypnose. Irgendwann mache ich mich auf den Weg zurück ins Hotel. Übermüdet stehe ich wieder vor der Freundinnen-Skulptur und rauche. Ich denke zurück an Zeiten, in denen alles so zerbrechlich schien.

03-11-17

Wir sind im äußersten Westen. Westlich von Den Haag kommt nichts, kommt das Meer, also nichts. Oder nicht nichts. Da kommt Wasser, Wasser, Wasser und dann das englische Lowestoft. Sagt Google Maps zumindest. Ich kenne Lowestoft nicht, habe es nie gesehen, kann nicht garantieren, dass es Lowestoft gibt. Ich habe nie einen Ort westlich von Den Haag gesehen. Oder doch? Liegt der Rest der Welt vielleicht westlich von Den Haag? Ich glaube es nicht. Aber könnte sein.

Ich kenne Den Haag. Ich kenne die breiten Straßen von Den Haag, und die paar Wiesen und Bäume und Tiere. Ich sehe viele rechteckige Kacheln in Den Haag, Linien überall, senkrecht und waagrecht, ich sehe rechte Winkel, ich sehe Geometrie, ich sehe De Stijl.

Ich war in Den Haag vor zwei Monaten zum ersten Mal. Ich habe mich verlaufen, oder ich wusste eher nicht wohin ich laufen sollte. Ich ging nicht nach Westen, sondern nach Norden und ich traf niemanden. Die Stadt war leer. Ich sah nur Autos vorbeiziehen, oder parken, ich sah Familien aus Autos purzeln, und dann irgendwann sah ich einen Hirsch und davor einen großen Baum und unter dem großen Baum saß ein Paar, das knutschte.

Irgendwann landete ich in Chinatown. Irgendwann lande ich immer in Chinatown. Wieso suche immer nach den Orten im Westen, die dem Osten ähneln wollen? Wieso gehe ich nicht gleich nach Osten? Ich wollte nie nach China reisen, aber ich will immer nach Chinatown, oder Little Istanbul, oder zur Street of Arabs. Ich fühle mich wohl unter denen, die überall zuhause sind. Die ihr Schneckenhaus mittragen, wie ich meinen kleinen Handgepäckkoffer mit den defekten Rollen. Ich fühle mich wohl da. Ich verstehe die Idee, es ist ein Museum, ich mag Museen, die keinen Eintritt kosten. Es sind meistens die besten.

Bevor ich nach Chinatown abbiege, steht da eine Skulptur, gleich bei der Stadtbibliothek. Sie steht auf einem schwarzen Sockel und heißt „Freundinnen“. Sie zeigt zwei Mädchen, die gemeinsam auf ein Smartphone schauen. Oder eigentlich ist es ein Tablet, von den Maßen her. Die Freundinnen lächeln, während sie auf das Tablet schauen. Sie beide tragen Tunikas über ihren Jeans, und blaue Hijabs auf den Köpfen. Sie sind mir erst bei Nacht aufgefallen, als ich schlaflos die Straße entlanglief, um zu ermüden. Ich blieb stehen, sah sie an. Ich fühlte mich weniger allein.

Ich habe mit Salima gesprochen. Sie lebt in Amsterdam und sagt: „Fuck! Fatma, warum hast du dieses Buch geschrieben? Das ist meine Geschichte! Ich musste sie schreiben.“ Ich hätte sie gerne umarmt. Ich habe mit dem Mann in dem Laden namens Waterworld gesprochen, ganz am Ende von Chinatown. Er hat mir ein Tütchen hingehalten und gesagt: „Riech mal! Es ist süß! Mit Ananas!“ Ich mag eigentlich keine Ananas, aber ich sagte ihm das nicht, aus Höflichkeit. „Mhhh,“ habe ich gemacht, und das Tütchen dankend angenommen.

Ich kannte jemanden, vor vielen Jahren, nicht ganz zehn, ich machte ihm eine Szene und verschwand. Als ich ihn irgendwann doch entschloss zu suchen, war er verschwunden. Ich hörte, er ging nach Den Haag, um sich „Das Mädchen mit dem Perlenohrring“ anzusehen. Er ist nie wieder aufgetaucht. Hier ist er nicht. Aber ich suche auch nicht mehr.

20-10-17

Ich bin in einem kleinen Dorf in Süddeutschland aufgewachsen, fünf Minuten von der Frankreichgrenze entfernt. Richtig bewusst wurde mir die geografische Lage meines Zuhauses erst mit achtzehn als ich einen Führerschein hatte. Immer wieder fuhren wir mit Freunden in die nächste Kleinstadt hinter der Grenze, in der sich eine Filiale der französischen Supermarktkette Super U befand. Wir kauften dort Kekse und Limonaden, die es in Deutschland nicht gab. Es waren gar nicht spezifische Produkte, nach denen wir suchten. Wir kauften jedesmal etwas anderes, hauptsache fremd. Denn es verlieh uns ein besonderes Gefühl der Freiheit, innerhalb nur einer halben Stunde einen Auslandstrip gemacht zu haben und sogar Souvenirs mitzubringen.

Dass nun das Festival in Den Haag, das ich als Beobachterin begleiten darf, „Crossing Borders“ heißt, stimmt mich insofern irgendwie nostalgisch. Weil ich an die Kekse von Super U denken muss. Aber auch, weil ich das Gefühl habe, dass das Überqueren von Grenzen etwas gestriges hat. Natürlich stimmt das nicht. In Zeiten von Brexit und dem Unabhängigkeitskampf der Katalonen gewinnen Grenzen wieder zunehmend an Bedeutung. Menschen entscheiden sich per Referendum für neue Grenzen, sie gehen auf die Straße für sie, riskieren ihre Freiheit.

Und dann gibt es noch solche Grenzziehungen, die nicht gerade erwünscht waren, und deren Überwindung ein Leben kosten kann. Ich erinnere mich, wie ein sehr guter Freund mir erzählte, wie seine Mutter auf dem Weg von Aleppo nach Antakya an mehreren Checkpoints vorbeimusste, die neue Grenzen in einer uralten Region markierten. Vor gewissen Checkpoints musste sie sich verschleiern, hinter der türkischen Grenze, nahm sie den schwarzen Stoff, der ihren Körper versteckte wieder ab. Er zeigte mir Fotos von ihr, wie sie sich kaputt lachte, als beriete sie sich auf eine lächerliche Kostümparty vor.

Es ist kompliziert mit der Grenze. Sie lässt sich nicht per se für gut oder für schlecht erklären. Erst vor zwei Sommern sahen wir Hunderttausende von Menschen zu Fuß durch Europa ziehen, um die Grenze zu einem lebenswerten Umfeld zu erreichen. Es gibt zig Minderheiten auf der Welt, etwa Kurden in der Türkei, die seit Jahrzehnten um ihre Autonomie kämpfen, weil sie unterdrückt werden und eine Grenze ihnen Schutz bieten könnte. Es gibt Länder wie Georgien, das seit 1989 unabhängig ist, aber dessen Grenzen trotzdem regelmäßig verschoben werden, mit grober Gewalt.

Dass die Verbindung von Musik und Literatur sowie das internationale Line-Up auf diesem Festival als Grenzüberschreitung begriffen wird, hat insofern etwas durchaus zeitgenössisches. Denn in Zeiten von verhärtenden und sich vermehrenden Grenzen, gilt es um so mehr durch Kunst und durch Kollektivität die Begrenzungen in unserem Denken und Empfinden zu hinterfragen, sie abzutasten, und vielleicht sogar einen Schritt über sie, auf die andere Seite zu wagen. Schließlich sind sie da, um überquert zu werden.