Sonja Pudelko
BY Frederik Willem Daem
01-12-2015

Nach zweimonatigen Irrfahrten erkenne ich, dass ich gut daran tue, mich ein für alle Mal darauf festzulegen, dass ich nur ein Zuhause haben kann. Einen Ort, an dem ich ich selbst sein kann, ohne über mich selbst sprechen zu müssen. Frühere Ziele, in denen ich in den vergangenen Wochen erfolglos Zuflucht gesucht habe: Den Haag, Amsterdam, Lissabon, Löwen, Antwerpen, …

Eine Liste, die weiter anwachsen wird und wobei die Genannten lediglich die Zeitweiligkeit miteinander teilen. Die Stadt als Transitzone, die mich entweder woanders hin- oder zurück nach Hause führt.

Lange habe ich geglaubt – momentan weiß ich nicht mehr, was ich glaube – dass ein Zuhause auch eine Person sein könnte. Dass alles, was diese Person umgibt, überflüssiges Gepäck wäre und ihre Anwesenheit dazu ausreichte, aus einer Umgebung ein Zuhause zu machen. Das Prinzip „Zuhause“ könnte auch auf etwas Materielles reduziert werden wie etwa in einer Bierreklame, an die ich mich aus meiner Kindheit erinnere und in der jemand verkündet, sein Zuhause bestehe schlichtweg aus dem Ort, an dem sich sein Stella befinde. Die Protagonisten dieser Reklamen sind für gewöhnlich männlich, was auch der Slogan einer anderen Biermarke durch die Worte “Männer wissen warum“ bezeugen will. Auch wenn ich mich mit Bier vertraut fühle und meines Erachtens auch weiß, warum, bin ich froh, beschlossen zu haben, dass mein Zuhause von nun an lediglich ein Ort sein wird.

Noch spezifischer die Stadt, in der ich geboren wurde, wo ich aufwuchs und anschließend ein Vierteljahrhundert gelebt habe. Dieselbe Stadt, der ich den Rücken kehrte, als ich noch felsenfest davon überzeugt war, ein Zuhause müsste aus nicht mehr als einem Individuum bestehen. Jetzt, da ich diese Person nicht mehr länger mein Zuhause nennen kann/darf, ruft sie notgedrungen von neuem meinen Namen. Der Lockgesang ihrer Sirenen durch eine Terrorgefahr auf allerhöchstem Niveau.

Zuhause ist es gegenwärtig schwierig, zwischen Verteidigung und Besatzung zu unterscheiden, und über Letzteres schrieb ein Landsmann einst einen Gedichtband mit experimentellen typografischen Besonderheiten. Kürzlich wurde ich darüber belehrt, in meinen Hinweisen weniger kryptisch sein zu müssen, wenn bereits deutlich sei, was ich meine. Also hierbei, nur für sie: Der Name des Dichters ist Paul van Ostaijen, besagte Stadt ist Brüssel.

Zuhause ist alles im und um das ‚Vijfhoek‘, dem Stadtzentrum, wo sämtliche Kneipen- und Restaurantbesitzer momentan aufgefordert werden, die Türen zu schließen. Das Leben kann nicht anders als langsamer zu verstreichen, widerwillig ein wenig zum Stillstand zu kommen. In Brüssels Straßen gehen Männer in Tarnfarben gehüllt, die ihr Ziel dadurch verfehlen, dass sie sich von Beton, Reklame und Alltäglichkeit abheben. Über ihren Schultern tragen sie Waffen, die länger als Kinderarme sind, und fahren in Wagen mit Flugabwehrartillerie. Die Vögel bleiben in ihren Nestern, weil es dort sicherer ist.

Währenddessen sitze ich zweitausend Kilometer weiter südlich in einer Stadt, wo ich zufällig auf einen belgischen Politiker schalte, der auf Portugiesisch untertitelt wird. Auch hier berichten die Nachrichten von ihr. Dem Meisten kann ich nicht folgen, weshalb ich den Sender wechsle und das Desinteresse nicht länger mit demselben Schuldgefühl einhergeht. Selbst in Tragödien gibt es so etwas wie Gewöhnung, den Schmerz, der Teil einer tagtäglichen Routine wird.

So oft ist alles leichter gesagt als getan.

– FWD

Sonja Pudelko
01-12-15

Nach zweimonatigen Irrfahrten erkenne ich, dass ich gut daran tue, mich ein für alle Mal darauf festzulegen, dass ich nur ein Zuhause haben kann. Einen Ort, an dem ich ich selbst sein kann, ohne über mich selbst sprechen zu müssen. Frühere Ziele, in denen ich in den vergangenen Wochen erfolglos Zuflucht gesucht habe: Den Haag, Amsterdam, Lissabon, Löwen, Antwerpen, …

Eine Liste, die weiter anwachsen wird und wobei die Genannten lediglich die Zeitweiligkeit miteinander teilen. Die Stadt als Transitzone, die mich entweder woanders hin- oder zurück nach Hause führt.

Lange habe ich geglaubt – momentan weiß ich nicht mehr, was ich glaube – dass ein Zuhause auch eine Person sein könnte. Dass alles, was diese Person umgibt, überflüssiges Gepäck wäre und ihre Anwesenheit dazu ausreichte, aus einer Umgebung ein Zuhause zu machen. Das Prinzip „Zuhause“ könnte auch auf etwas Materielles reduziert werden wie etwa in einer Bierreklame, an die ich mich aus meiner Kindheit erinnere und in der jemand verkündet, sein Zuhause bestehe schlichtweg aus dem Ort, an dem sich sein Stella befinde. Die Protagonisten dieser Reklamen sind für gewöhnlich männlich, was auch der Slogan einer anderen Biermarke durch die Worte “Männer wissen warum“ bezeugen will. Auch wenn ich mich mit Bier vertraut fühle und meines Erachtens auch weiß, warum, bin ich froh, beschlossen zu haben, dass mein Zuhause von nun an lediglich ein Ort sein wird.

Noch spezifischer die Stadt, in der ich geboren wurde, wo ich aufwuchs und anschließend ein Vierteljahrhundert gelebt habe. Dieselbe Stadt, der ich den Rücken kehrte, als ich noch felsenfest davon überzeugt war, ein Zuhause müsste aus nicht mehr als einem Individuum bestehen. Jetzt, da ich diese Person nicht mehr länger mein Zuhause nennen kann/darf, ruft sie notgedrungen von neuem meinen Namen. Der Lockgesang ihrer Sirenen durch eine Terrorgefahr auf allerhöchstem Niveau.

Zuhause ist es gegenwärtig schwierig, zwischen Verteidigung und Besatzung zu unterscheiden, und über Letzteres schrieb ein Landsmann einst einen Gedichtband mit experimentellen typografischen Besonderheiten. Kürzlich wurde ich darüber belehrt, in meinen Hinweisen weniger kryptisch sein zu müssen, wenn bereits deutlich sei, was ich meine. Also hierbei, nur für sie: Der Name des Dichters ist Paul van Ostaijen, besagte Stadt ist Brüssel.

Zuhause ist alles im und um das ‚Vijfhoek‘, dem Stadtzentrum, wo sämtliche Kneipen- und Restaurantbesitzer momentan aufgefordert werden, die Türen zu schließen. Das Leben kann nicht anders als langsamer zu verstreichen, widerwillig ein wenig zum Stillstand zu kommen. In Brüssels Straßen gehen Männer in Tarnfarben gehüllt, die ihr Ziel dadurch verfehlen, dass sie sich von Beton, Reklame und Alltäglichkeit abheben. Über ihren Schultern tragen sie Waffen, die länger als Kinderarme sind, und fahren in Wagen mit Flugabwehrartillerie. Die Vögel bleiben in ihren Nestern, weil es dort sicherer ist.

Währenddessen sitze ich zweitausend Kilometer weiter südlich in einer Stadt, wo ich zufällig auf einen belgischen Politiker schalte, der auf Portugiesisch untertitelt wird. Auch hier berichten die Nachrichten von ihr. Dem Meisten kann ich nicht folgen, weshalb ich den Sender wechsle und das Desinteresse nicht länger mit demselben Schuldgefühl einhergeht. Selbst in Tragödien gibt es so etwas wie Gewöhnung, den Schmerz, der Teil einer tagtäglichen Routine wird.

So oft ist alles leichter gesagt als getan.

– FWD

16-11-15

Bis zum Strand dauert es zu Fuß eine Stunde, und ich beschließe dorthin zu gehen, weil ich den Strand hasse, dieses Ziel werde ich niemals erreichen, eben weil ich den Strand hasse.

Auf meinem Weg wurde eine Einkaufsstraße für die Ankunft eines Heiligen abgesperrt, den sie hier und zuhause ‚De Sint‘ nennen. Es regnet und weht, wie unaufhörlich in den letzten Tagen, doch darunter leidet das Interesse nicht. Kinder warten mit Eltern unter Regenschirmen und sehen schlecht geschmückte Prunkwagen vorbeirollen. Aus Lautsprechern erschallen schrille Lieder einer aus Knecht Ruprechten bestehenden ‚Pietenband‘. Sie halten es mit den Worten: „Was immer auch kommt, alles wird gut“, und wir glauben ihnen. Der Zug plätschert im Tempo der Bauchfüßer vorwärts und geht am Ende der Einkaufsstraße, die sicher einen halben Kilometer lang ist, noch weiter. Ich sehe keinen Heiligen. Ich sehe dafür kleine Esel mit Körben, Schleichwerbung, Mandarinen, Smartphones, weiße Menschen mit schwarzgefärbten Gesichtern, die Ruß suggerieren sollen. Auch wenn sie keine Brände löschen, sind die ‚Zwarte Pieten‘ als Feuerwehrmänner verkleidet, und in einem kleinen Zug ist eine Fanfare zu sehen. Ein einziger ‘Zwarte Piet’ manövriert sich auf einem Segway durch die Massen. Dort sind Kinder, für die die Welt noch etwas Wunderbares hat, dort sind Menschen, die heute durch die Brille der Kinder schauen. Habe ich schon gesagt, dass es regnet?

Ich bin jetzt seit vier Tagen hier. Was sich mal länger, mal kürzer als das hier anfühlt. Meine Kleider liegen verstreut auf einem roten Sessel. Es gibt einen Schreibtisch, der durch ein Fenster von der Dusche getrennt wird, was Fantasien nährt. Zwischenzeitlich habe ich diese Stadt als mein Zuhause bezeichnet, auch wenn ich mir von ihr noch immer kein Bild machen kann. Den Haag, ein Begriff, den ich nur aus den Radionachrichten kenne. Eine Ortsbestimmung in Artikeln und eine Stadt, wo Probleme weltlichen Ausmaßes gelöst werden müssen. Bei Letzterem kann ich mir genauso viel vorstellen wie bei der Stauung im Waaslandtunnel aus denselben Nachrichten. Aber hey, dafür kenne ich blind die Strecke vom Hotel zum Theater, finde das Schlemmer – wo wir gute Abläufe feiern und David Vann beim Tanzen auf etwas abgeht, das vermutlich Amphetamine sind – in der Mitte. Vann nickt mir zu, und für einige ist diese Anerkennung ihres Daseins etwas Beneidenswertes, das vom ‚Sint‘ geküsste Kind. In dieser von einer Organisation, mithilfe von Eintrittspreisen und Subventionen, geschaffenen Illusion besitzt die Literatur Format und entsteht eine unsichtbare Hierarchie, in der Scheinwerfer aus Menschen Helden machen. Für diesen Ausnahmezustand bin ich ihnen dankbar.

Es regnet noch immer beklemmende Aussichtslosigkeit, als ein Vakuum dem Erscheinen eines transponierten Autors eine Atempause gönnt. Er besitzt den Flair eines Britpopsängers mit einer Anhängerschaft von Teenieherzen, eine dazu passende Eleganz, aber darüber hinaus einen vertrauten Akzent. Manchmal brauchen Fremde nicht mehr als einen ungekünstelten Eröffnungssatz, um zu wissen, was sie einander bedeuten können. Daraufhin Schulterklopfen, Anekdotik, ein gemeinsamer Arbeitsberater, eine Brüsseler Kommune, Aktualität, eine Einladung, nach Athen zu kommen, der Satz: „Es erschien mir im Traum.“

Es sind diese kleinen Details, die mir den Mut geben, morgen dasselbe wie gestern zu machen und besessen weiter in diesem großen, unübersichtlichen Ganzen zu wühlen. Als Sklaven unserer Erfahrungen haben wir an unserer Vergangenheit zu tragen. Ende.

Putzfrauen wechseln Bettwäsche und leeren Plastikeimer. Hinter Rücken schließen sich Türen mit einem Klicken und der irrealen Ambition, jemals wieder von derselben Person geöffnet zu werden. In der Lobby machen sich Leute gegenseitig Dinge weis: Wir halten Kontakt, ich maile dir noch, es war mir ein Vergnügen, viel Erfolg. Aber wie in der Literatur werden die Ausreden gemeint und geglaubt. Nach mehr suche ich nicht.

14-11-15

Noch mehr desselben Mäanderns in zwei Kapiteln.

(1) In tragischen Zeiten finden Menschen wieder zueinander, salben offene Wunden und vergeben frühere Sünden. So war es bei meinem Vater, und so wird es hoffentlich, in Anbetracht einer unvollendeten jüngsten Vergangenheit, auch bei mir einst sein. …

Gestern Nachmittag (13.11.) beschloss ich, dass mein Stück auf diese Weise beginnen sollte. Es war die Einleitung, die auf eine Nachricht meines Bruders erfolgte, welche besagte, “sie” seien ins Haus meiner Mutter eingebrochen. Das Haus, in dem ich aufgewachsen bin und wo mein jüngster Bruder in jenem Moment vom Bellen eines Hundes geweckt wurde, den Einbrecher in der Toilette einzuschließen versuchten. Seine Worte: „War ‘ne Zigeunerbande, die rumzieht, war zum Glück krank und zuhause, um sie wegzujagen.“ Neben einem Gefühl von Sicher- oder Geborgenheit brannten sie auch mit ein wenig Schmuck durch. Das wagte ich als tragisch zu bezeichnen. Bitter…

Denn inzwischen steht eine Stadt in Brand, wie die Zeitungen berichten. Sie schreiben von einem Massaker. Davon, dass unsere Welt nie wieder dieselbe sein kann. Meinungsmacher benutzen das Ereignis, um Zusammengehörigkeit zu schaffen oder Zwietracht zu säen. Menschen schreiben Beileidsbekundungen, Freunde aus Paris teilen mit, dass sie in Sicherheit sind, Mauern werden hochgezogen. Ein Twitterer richtet sich an die Leute, die die „Flüchtlinge“ des Anschlags beschuldigen, sagt: „Seht ihr nicht, dass die Täter genau die Menschen sind, vor denen die Flüchtlinge flüchten?“ Alles bekommt einen Daumen hoch. In der Stadt der Lichter kommt man zusammen, um sich aneinander und am noch stets schwelenden Feuer aufzuwärmen. Der Rauch nimmt die Gestalt von Wut, Besorgnis, Unverständnis, Fortgang an. Wir können nicht weiter, wir müssen weiter!

Vierzehn Stunden früher: Es ist kurz nach elf, und ich habe gerade über eine Stunde ausgestreckt auf einem Teppichboden gelegen. Eine britische Singer-Songwriterin, deren Vor- und Nachname mit der gleichen Initiale beginnt, sang u.a. eine Nummer über einen einsamen Mann, dessen Königreich der Erde angehört. Es klingt alles treffend, und ich beschließe, dass mit der Melancholie jetzt Schluss sein muss, dass dies jetzt schon ein guter Abend war.

Mit einer einfachen Seele, die die Worte „Meine erste Frau nannte mich Rübe, wenn ich an sie denke, werden meine Augen trübe“ sprach und einen Saal berührte. Mit Kevin Barry, der mich lehrt, dass das Schreiben von Kurzgeschichten mit Seiltanzen vergleichbar ist. Jeder Satz ein Schritt auf dem Drahtseil. Beim kleinsten Fehltritt sieht die Situation, sowohl für Autor als auch Leser, hoffnungslos aus. Ich: Philippe Petit.

Dort, wo zwischen zwei Theatern be- und entladen wird, rauche ich hochmütig. Neben mir geht ein Amerikaner meines Alters auf und ab. Vorhin stand er mit etwas auf dem Podium, das das Internet als Indiefolk bezeichnet. Er sorgt sich um eine befreundete Gruppe, die zusammen mit Zuschauern in einem Konzertsaal mit chinesischer Architektur als Geisel gehalten wird. Die Täter tragen Bombengürtel und Kalaschnikows. Die Anzahl der Toten steigt exponentiell, verdoppelt sich, bis sie dreistellig ist. Ich sehe mich um, entdecke Männer, Frauen, alte und junge, und hier ist dort und dort ist hier. Ein Anschlag auf Sport, Essengehen, Schwatzen, Kunst. Auf Kameradschaft und sorglosen Eskapismus.

Genau wie alle wollten diese Menschen das Ende der Woche feiern, aber viele von ihnen erlebten nicht mal den Beginn des Wochenendes. Ich höre, es sei der blutigste Anschlag seit zehn Jahren, und ich fühle mich dumm, weil ich mich nicht einmal daran erinnere, was damals passiert ist. Wir alle trinken weiter, und auf der Bühne steht wieder ein Dichter, danach ein Autor mit dem gleichen Geschmack für Scorsese, Kerouac und Presley. Danach tanze ich, als würde mich nichts bekümmern, und ich versuche, zwischen Freunden, Bekannten und Kollegen zu unterscheiden.

Aus einem Hotelzimmer meldet sich Drake zu Wort und teilt einem sozialen Netzwerk mit, dass zehn Freunde in Paris unversehrt seien. Von zweien habe ich noch nie gehört.

13-11-15

„Alle meine Jungs sind Kämpfer wie Manilla, alle meine Jungs streben nach ‘ner Mille.“

Es ist die erste Botschaft, die mir hier in meiner Muttersprache mitgeteilt wird. Sie wird begleitet von Gedröhn, einer wenig inspirierenden Melodie; wenigstens ist sie tanzbar. Sie hat ihren Ursprung in einem Geschäft namens ROX, das mit bezahlbarer Damenbekleidung handelt, die vermutlich mit der derzeitigen Mode konform geht. Ich habe hier nichts verloren, bleibe aber trotzdem vor dem Schaufenster stehen, und in Erwartung von etwas, das nicht eintrifft, analysiere ich den Liedtext. Versuche ich mir vorzustellen, wie Jungs in der philippinischen Hauptstadt kämpfen? Oder ist es so ein Schulbeispiel dafür, wie Menschen Variationen aus der gleichen Sprache benutzen und Bedeutungen in Übersetzungen verloren gehen, wie ein amerikanischer Dichter einst sein Handwerk beschrieb? Manilla im Südniederländischen – Flämisch wäre abwertend… – wird im Nordniederländischen zu Mandela und verleiht dieser noch immer ziemlich trivialen Botschaft etwas mehr Sinn.

Ich habe mich verirrt.

Auf den Stufen des Hotels tranken Jugendliche Bier und reichten Joints weiter, begleitet von Wortspielen. Sie haben das Spui erobert, wissen, wohin sie gehen müssen, um sich wie zuhause zu fühlen. So richtet sich der Mensch sein Leben ein. Durch das Treffen von Entscheidungen und diese mit Argumenten zu verteidigen, die ihm Seelenfrieden garantieren. Gewohnheitstiere. Ich esse bei BK und nicht bei Mäckes, weil… Weil ich es gewohnt bin. Zuhause in Brüssel saß ich auf dem Sint-Kathelijneplatz, weil… Weil jemand mal damit angefangen hatte. Jetzt mache ich es nie mehr anders.

Dort, damals, in einer Zeit, die weniger weit zurückliegt als es höchstwahrscheinlich der Fall ist, widmete ich mich denselben Freizeitbeschäftigungen wie die Jugendlichen hinter dem Mercure Hotel, wo ich vom Platz aus das Licht in meinem Zimmer brennen sehen kann, fünfter Stock, zweites Fenster von links. Wer wollte, könnte schlussfolgern, dass sich gar nichts verändert hat und der Großteil meines Lebens noch immer aus dem Zeittotschlagen in Gesellschaft von Freunden oder Alkohol besteht. Doch ich weiß, dass ich mich dadurch von ihnen unterscheide, nicht mehr über dieselbe Sorglosigkeit zu verfügen. Ich stehe vor Entscheidungen. Was ist mein Ziel? Wie verkrafte ich meinen Schmerz? Wo soll ich hier in Den Haag meine Ausfallsbasis errichten? Was wird hier mein Stanny, mein Au Laboureur oder De Raaf? Wo soll ich einen Verzweiflungsversuch unternehmen, mich niederzulassen?

Genau wie in Brüssel ist auch hier ein Grote Markt. Sie teilen dieselben Charakteristiken in Anbetracht der Kopfsteinpflaster, beheizten Cafés, Legenden, Erbgut, Bier vom Fass, die Liste lässt sich noch weiter anfüllen. Hier, auf dem Platz, dessen Name so vertraut klingt, gehe ich in einer Kneipe vor Anker, die September heißt und der ich den Vorzug gebe, weil das Grolsch hier genauso schlecht schmeckt wie bei der Konkurrenz und der neunte Monat derjenige ist, in dem ich geboren wurde. Weil mir in diesem Jahr lediglich Mist beschert wurde, spendiere ich mir eine Auster, da die hier weniger kosten als ein Pils. Ich kaufe doch noch Pils, um die Auster herunterzuspülen, und frage mich, was Menschen wohl denken, die mich in einer Kneipe sehen, die sie bevorzugen, während andere sie verabscheuen. Wer ist dieser Mann, der seine Mütze anbehält, mithört, auf niemanden wartet und nirgendwo hinzumüssen scheint? Er vertritt eine sonderbare Zurückgezogenheit. „Seine Entscheidung“, beschließen sie fast sofort. Eine, die er mit unwiderlegbaren Argumenten wie „es ist so“ vertritt und mit der wir uns, der Einfachheit halber, abfinden müssen.

06-10-15

Alles ist tiefviolett und erweckt den Anschein, dieser charmante Entwurf trage es in sich, ein nicht allzu gefühlsduseliger Selbstmordbrief zu werden. Etwas Unterhaltsames und Romantisches, über Spuren im Fleisch, einen Mann und ein Pferd, eine Wüste und Gerassel, Tantalos oder Sisyphos. Er hat in der Vergangenheit behauptet, sich wiederholt an dasselbe Thema herangewagt zu haben. Die Beispiele dafür sind zahlreich; sie liegen handgeschrieben auf einem Schrank, wurden veröffentlicht oder gingen verloren. Zu besseren Zeiten hat er oft gescherzt: Die Vergänglichkeit der Liebe, mein Steckenpferd. Das einzige Thema, das sich nun, da Not kein Gebot kennt, noch behandeln (oder in diesem Fall abhandeln) lässt. Eine schleichende Krankheit, die Ärzte vor Rätsel stellt. Ihre ängstliche Diagnose: Einheitsbrei.

Einer von ihnen sagt: Jeder Beginn eines Endes muss notwendigerweise doch auch ein neuer Anfang sein, aber er kann nur an ihre, gleichermaßen seine, Freunde denken. Daran, wie sie Zügellosigkeit verurteilen und er sein Bestes tut, sich damit abzufinden, so, als ob es ihnen ein Horoskop vorausgesagt hätte. Wenn nicht jetzt, dann morgen, womöglich nächste Woche.

Er findet Trost in den ihn auch weiterhin umgebenden Dingen: einer Stadt, wohin er, je nach Zugtyp, x Viertelstunden unterwegs ist, einem Dialekt, den er beherrscht, Freunden, die ihn verstehen oder es zumindest vorgeben; aber wie kann er jemals in Gänze davon überzeugt sein, dass sie es nicht nur deshalb tun, weil sie Heil in einer Logik finden, die sich selbst genauso oft widerlegt?

Wenn sie anruft, lässt er das Telefon manchmal unnötig lang klingeln, um dann auf bereits beantwortete Fragen zu antworten. Wie es ihm geht, was mit ihnen passiert, wo er gerade ist, wo er war. Er hat noch niemals zuvor so oft ich weiß es nicht gesagt und fürchtet sich vor einem Kinderspiel aus gefaltetem Papier, vier Hütchen auf Fingerkuppen, einer Zahl und einer Farbe, die eine Zukunft mit einem Schwimmbad, einem Auto, einem Kind oder einem Mädchen aus der Klasse voraussagen, das man heiraten wird, weil Himmel und Hölle es so vorgeben.

Sie zieht den Schluss, dass er alles in eine Waagschale gelegt hat, um mit zwei verschiedenen Maßen zu messen. Sind sie etwa keine Krieger? Eine seltene Rasse, die einen Baumwollfetzen wehen lässt, auf dem ein geflicktes Herz abgebildet ist… und dabei unvermeidlich auf einen neuen Rivalen wartet. Währenddessen wärmen sie lauen Kaffee in Mikrowellen auf und kosten den Nachgeschmack eines vagen Verlangens nach mehr.

Da ist ein ihn verfolgendes Bild eines Tretbootes inmitten eines Sees; eines Pärchens, das er gut kennt, auch wenn er sich ihnen völlig entfremdet hat. Ein Kanute rast an ihnen vorbei und kündigt einen Schatten an, der über die Hügelkämme schleicht, die aus einem Tal ein Tal machen. Eine Sonne – damals gab es noch zwei.

Eine von beiden funkelt auf einem Schmuckstück, das einem betreffenden Finger schmeichelt. Ein Lied spielt, das er nie mehr hören wird, und sechs Monate später hält sie ihm vor, das Teil zu verpfänden; er hofft, dass sie vom Erlös etwas Schönes kaufen wird, das ihr teurer sein wird, als er selbst es jemals vermochte.

Er kann nicht mehr zurück.

Auf der Titelseite einer Zeitung die soundsovielte wissenschaftliche Entdeckung, auf die nachher am Kaffeeautomaten, zwischen Vorträgen, tiefer eingegangen werden wird. Er wird dazu verpflichtet, sich wieder unter Menschen zu begeben, diesmal sind es Kollegen, und er gestikuliert, lacht unbewusst zu laut, ist erst verlegen, dann redselig, wenn nicht redekrank, und kommt im allerbesten Fall ehrlich herüber. Er verspricht, dieses Thema nie mehr zu behandeln. Lügt.