Lisa Mensing
Hunde, Kühe
BY Roelof ten Napel
03-11-2017

Zu Verabredungen komme ich immer zu früh, mehr oder weniger absichtlich. (Ein Tag kann meiner Meinung nach maximal drei Termine fassen: morgens, mittags und abends. Wenn ich schon irgendwo sein muss, will ich gelegentlich falschspielen und im selben Tagesabschnitt etwas Unverbindliches planen). Mehr oder weniger absichtlich: Damit will ich sagen, dass ich mir keine Mühe gebe, extra früher anzukommen, sondern dass ich einfach „pünktlich“ aufbreche, ohne wirklich auf die Zeit zu achten. Und dann schaue ich, was passiert.

Ich schreibe das alles eigentlich nur, um mitzuteilen, dass ich viel zu früh in Den Haag angekommen bin.

Wir treffen uns erst später, zur Abendbrotzeit, und ich habe gerade – es ist Mittag – meine Reisetasche ausgepackt, Sachen hier und dort im Zimmer verteilt. Ich schreibe ein bisschen. Gleich gehe ich noch spazieren.

Ich hoffe, auf Orte zu stoßen, die ich von früheren, sporadischen Besuchen wiedererkenne und von denen ich noch nicht wusste, dass sie dort waren, wo sie sind. Man muss eine Stadt mehrmals besuchen, bevor sie sich einem offenbart. Erst gleicht die Karte einem flachen Stück Pappe, doch später zeigt sich, dass man eine richtige Schachtel daraus falten kann und bestimmte Straßen miteinander verbunden sind. Vielleicht machen Städte genau das: sie schrumpfen.

Oder ist man selbst derjenige, der sich ausdehnt? Die Stadt als eine zum Hineinwachsen gekaufte Jacke.

Während des Spaziergangs erkenne ich eine Baumreihe am Wasser wieder. Unter diesen Bäumen habe ich schon vor ungefähr vier oder fünf Jahren gestanden. (Auch damals war ich zu früh). Ich betrachte das Kanalufer. In solchen Momenten, an denen man an Orte zurückkehrt, wo man vor langer Zeit ein oder zwei Mal gewesen ist, spürt man, wie das Leben vorübergeht. Damit meine ich nichts Schwermütiges, nicht, dass mein Leben, dein Leben, vorübergeht, dass es abläuft – ich rede nicht vom Sterben. Ich meine die Form, in der sich uns das Leben zeigt: vorübergehend. So wie wir unter diesen Bäumen herlaufen, daran vorbeilaufen, an ihnen vorübergehen.

Vorhin habe ich mir ein gebrauchtes Exemplar von A. Alberts De honden jagen niet meer (Die Hunde jagen nicht mehr) gekauft. Ich habe es schon, jetzt habe ich es nochmal, es ist ein sehr gutes Buch, und solche Bücher muss man unerwartet weitergeben können.

De honden jagen niet meer handelt von einer Familie, dessen Lebensweise – es ist eine Schifferfamilie – langsam entschwindet, aus der Zeit fällt. Ist das nicht faszinierend? Dass man 1. eine Lebensweise haben kann, mit der man alles zu bezwingen versucht, und 2. dass einem das alles entgleiten kann, die Art und Weise, die Gewohnheiten. Während sich einem das Leben weiter aufdrängt. Es kann passieren, dass man auf einmal nicht mehr in diese Welt passt.

Zurück in meinem Zimmer lese ich De koe die over de waal zwom (Die Kuh, die über die Waal schwamm), von Willem Claassen, und erst jetzt fällt mir auf, wie sehr das Buch De honden ähnelt. Claassen wuchs in einer Bauernfamilie auf, und auch das – das Bauer-sein – ist nicht einfach nur ein Beruf, sondern eher eine Lebensweise, etwas, was den gesamten Tagesablauf bestimmt.

In einem der Fragmente, aus denen das Buch besteht, sagt Willems Oma zu ihm: „Du wirst später bestimmt auch ein Bauer”.

Willem antwortet: „Vielleicht.”

Ich erinnere mich daran, dass der jüngste Sohn aus der Familie von De honden nicht als „Interner“ zur Schifffahrtschule geht. Diese Entscheidung trifft er selbst. Vielleicht, weil er als Erster begreift, dass ihr Schifferdasein langsam zu Ende geht. Er muss sich auf etwas anderes vorbereiten als sein Vater, als sein Großvater, usw. (nur weiß er nicht, worauf).

Lisa Mensing
Schal
19-11-17

Als ich am Tag nach dem Festival morgens meine Tasche packte, fiel mir das Fehlen meines Schals auf.

Oder eher, „mein” Schal.

Er ist, oder war (ich weiß nicht, welches Tempus ich hier verwenden muss) von Annemarie. Ich habe sie am Abend meiner Buchpräsentation in einem Café in Amsterdam kennengelernt, als ich die ganze Zeit eindrucksvoll vor mich hin hustete, da ich immer den richtigen Zeitpunkt verpasse, um meinen Wintermantel herauszuholen, und mir deshalb eine Erkältung eingefangen hatte. Annemarie saß neben mir und bestellte einen Grog – dieses Getränk kannte ich nicht, es ist ein Gemisch aus heißem Wasser, Honig, Orangensaft und Rum. Außerdem: gut für den Hals, sagte sie. Wir kamen ins Gespräch und als sie ging, gab sie mir ihren Schal.

Den habe ich seitdem getragen – aber jetzt war er weg.

Mir fällt gerade die Ähnlichkeit zwischen dem Übersetztwerden und diesem Erlebnis auf. Man verliert einen Text, der sowieso nicht ganz von einem selbst stammt (die Sprache, in der man schreibt, muss man erst einmal bekommen), und sucht ihn an den Orten, an denen man gewesen ist.

Man findet ihn wieder, oder auch nicht, und vielleicht ist er nicht mehr genau derselbe. Man findet „seinen“ Schal, „seinen“ Text.

Während des Übersetzungsprojekts im Rahmen von The Chronicles stolperten wir über einen Vergleich mit einem Spatz, der im Deutschen so nicht funktionierte. Ich verglich etwas mit einem Spatz, da es „nichts Besonderes“ war und ein Spatz – im Niederländischen jedenfalls – ein Sinnbild der Alltäglichkeit ist. Nicht, dass Spatzen im Deutschen etwas Besonderes sind, aber sie haben mehr Charakter, es klingt eine gewisse Frechheit mit, die im Niederländischen fehlt.

Wie übersetzt man das? Indem man aus einem Spatz mehrere macht? Indem man ein anderes Wort für „Spatz“ verwendet? Indem man einen anderen Vogel auswählt?

Ich dachte: Als ob der Spatz in meinem Satz während des Übersetzens emporfliegt, und man darauf warten muss, was zurückkommt.

(Und auch: Dass man seine eigene Sprache erst in solchen Momenten kennenlernt. Dass man keine Ahnung hat, welche Sätze typisch Niederländisch sind, merkt man erst, wenn man sie nicht in einer anderen Sprache wiedergeben kann. „Typisch“ Niederländisch sind alle Unterschiede zusammengenommen: die Unterschiede zum Deutschen, zum Französischen, zum Russischen, zum Japanischen, zum Zulu, zum Portugiesischen.)

Gut, genug davon.

In der Hotellobby, wo wir abends noch gesessen hatten, fanden sie nichts. Obwohl es nicht gerade auf dem Weg lag, ging ich danach zum Ort der Aftershowparty (mit Silent Disco) zurück und fragte nach einem gebundenen Schal.

– Der hier?

Eine Frau hielt einen matt-rosafarbenen Schal hoch. (Kurz wollte ich nicken). Ich verneinte, meiner war grau.

Schade.

Halt, warte mal – ich war gerade auf dem Weg zur Tür, als sie sagte, sie sehe hinten im Schrank mit den Fundsachen noch etwas. Der Schrank war schwarz, deshalb habe sie den Schal zuerst nicht gesehen.

Hurra, „mein” Schal!

Ja, wir müssen unsere Schals aneinander verlieren! Unsere Schals und unsere Handschuhe, unsere Mäntel (und unsere Gedanken, und Fragen, und Gemütszustände)! Und die lassen wir dann wieder abhandenkommen, ohne es zu merken. Wenn es uns dann auffällt, gehen wir dorthin zurück, wo wir sie zuletzt gesehen haben. Verlieren, finden, verlieren, finden. Wieder und wieder und wieder.

Gestalten
05-11-17

Als ich in der Tür stehen bleibe, ist das Gespräch schon in vollem Gange. Ein Mann, Ross Raisin, erzählt von einem Trainer – das schließe ich daraus, dass kurze Zeit später über die Fußballkultur gesprochen wird – der Jungen draußen stehen lässt, ihnen befiehlt, sich auszuziehen und sie mit einem Schlauch abspritzt, mit kaltem Wasser, während sie rufen müssen: Ich fürchte mich nicht, ich schäme mich nicht. Raisin behauptet, der Trainer wolle die Jungen eigentlich dazu bringen, sich von ihren Emotionen zu distanzieren, zu befreien. Er wolle „broken people“ erschaffen.

Es finden also die ganze Zeit über solche Gespräche statt, denke ich kurz. Menschen reden ständig an Orten miteinander, an denen man selbst nicht ist.

Ich möchte nicht zu lange zuhören, möchte wahrscheinlich nicht ankommen, lieber ein Passant bleiben, der gerade genug aufschnappt, um zu ahnen, worüber gesprochen wird.

(Man muss darauf achten, wie schnell man genug hat, genug empfangen hat, um damit etwas anfangen zu können. Einige Sätze, eine Szene. In einem halben Jahr werden mir die Worte „broken people“ wieder einfallen und dann werden sie nicht mehr so klingen, als würden sie aus einem wehmütigen Popsong stammen. Stattdessen tauchen dann Jungen vor meinem inneren Auge auf, die rufen müssen, dass sie vor nichts Angst haben. Warum ist das schlimm? Was macht Angst mit einem? Vielleicht sorgt sie dafür, dass man die Welt im Blick behält und man darauf vorbereitet ist, dass unerwartete Dinge geschehen – und vielleicht sieht man diese Dinge auch nur, wenn man ständig ein klein wenig Angst hat.)

Ich habe mein Festivalbändchen nicht ganz festgezurrt, damit ich es noch abnehmen kann. Die Tage haben dadurch etwas Katholisches an sich, weil ich es jetzt immer halb-bewusst zwischen Daumen und Zeigefinger gleiten lasse, so wie Gläubige einen Rosenkranz (so stelle ich es mir jedenfalls vor). Während ich von einem Veranstaltungsort zum anderen wechsle, komme ich mir ein bisschen wie ein Pilger vor. (Das ist jemand, der auf der Suche ist, aber nicht weiß, wonach, und deshalb eine Reiseroute plant, damit sich wenigstens die Umgebung ständig verändert – vielleicht ergibt sich etwas).

Ich lande im The Grey Space in the Middle, wo gerade ein Programm über Comics, Cartoons und Graphic Novels präsentiert wird (der Moderator scheint auf den Zeitplan zu pfeifen, wahrscheinlich zu Recht, es gibt viel zu sehen, viel zu fragen). Ich höre mir eine kurze Geschichte über das Zeichnen von Comics an, über die Anfänge, als die Zeitungen selbst keine Ahnung hatten, was sie eigentlich von den Zeichnern wollten, wodurch die unterschiedlichsten Stile entstehen konnten.

Ich kaufe mir schließlich ein großes, enzyklopädisches Bilderbuch. Es wurde von Floortje Zwigtman geschrieben und von Ludwig Volbeda illustriert und ist voller Fabeltiere (jeder sollte „Kinder“-Bücher kaufen, ihr wisst nicht, was ihr verpasst). Hinten im Buch befindet sich eine Art Disclaimer:

“Ein Fabeltier hat oft mehrere Namen. Die einen nennen es vielleicht „Wopperdraf“, die anderen „Drafwopper“. In manchen Ländern hat es drei Beine und Stielaugen, in anderen hat es sechs Beine und ist blind. Mit der Zeit mag sich der Ruf des Fabeltiers ändern. Wurde der Wolf in der Urzeit noch als starkes und tapferes Tier angesehen, wurde er in unseren Märchen später zum „großen bösen Wolf“. Ein Fabeltier kann also mehrere Namen haben und sieht immer anders aus. Und so ist es auch mit den Fabeltieren in diesem Buch. Vielleicht bist du schon mal einem niedlichen Drachen begegnet, oder einem Mamu, das überzeugter Vegetarier ist.“

Meiner Meinung nach gilt das nicht nur für Fabeltiere, sondern auch für Ereignisse, die jedes Mal, wenn man sich an sie erinnert, andere Formen annehmen. Und für Freunde, die dann, wenn sie die Eltern besuchen, vielleicht eine ganz andere Persönlichkeit annehmen. Für Orte möglicherweise auch, wenn man sie an unterschiedlichen Tagen besucht und es das eine Mal regnet, und das andere Mal nicht. Vielleicht auch für Geschichten, die bei jedem erneuten Lesen eine neue Stimme zu bekommen scheinen.

(Womöglich auch für Festivaltage, die mit ihrem Körper für jeden Besucher eine andere Verrenkung machen, wie eine mythische Schlange – die sich für jeden Besucher anders durch die Stadt windet, eine andere Route absteckt. Eine Route entlang einer mythischen Schlange, damit man immer ein bisschen Angst haben kann.)

Blindheit
04-11-17

Im Mauritshaus, hier in Den Haag, habe ich ein Gemälde von Rembrandt gesehen, auf dem der mythische, griechische Dichter Homer abgebildet ist. Homer war den Überlieferungen zufolge blind, und dieses Thema wurde immer wieder aufgegriffen.

(Mir fällt gerade auf, dass der Fokus des Crossing Border Festivals auf der Literatur und der Musik liegt, weshalb man es irgendwie auch als blind bezeichnen könnte. Obwohl es immerhin einen Programmpunkt zu Graphic Novels gibt.)

Jorge Luis Borges, der schließlich selbst blind wurde, schreibt in einem Essay über Blindheit, dass er sich an das Fehlen der Dunkelheit gewöhnen musste – der Schwärze eigentlich – die wir den Blinden meistens zuschreiben. Er spricht von einem grünblauen Nebel, der ihn beim Einschlafen begleitet. Ansonsten sei ihm das Gelb „treu geblieben“. Das Rot ist ganz und gar verschwunden.

Irgendwann zitiert er Oscar Wilde, der behauptet, dass die Antike Homer absichtlich als blinden Dichter darstellt, um zu betonen, dass Poesie in erster Linie Musik ist.

(Ich versuche kurz, mich an Poesie zu erinnern oder sie mir vorzustellen, die ich vor allem körperlich hören will – wenn ihr versteht was ich meine – so wie ich abends die Musik von Pink Oculus vor allem körperlich hören kann, den Groove, also die Furche, in die man mit seinem Körper gerät. Als würde man mit den Armen zuhören.)

Borges hält Wildes Hypothese für historisch nicht ganz korrekt, aber intelektuell für um so attraktiver. Außerdem müsse man beachten, dass Homers Poesie sehr visuell sei.

Und da ist etwas dran.

Ben Lerner zitiert in einem Essay über Ekphrasis (das literarische Beschreiben von Werken anderer Künste) eine Passage aus der Ilias, worin Homer den Schild des Helden Achilles beschreibt, und zwar so ausführlich, dass man es kaum noch als realistisch bezeichnen kann – kein einziger Schild könnte so detailliert sein. (Ich erinnere mich vage daran, dass die Beschreibung selbst nicht statisch ist, es sieht so aus, als würden die Abbildungen auf dem Schild sich bewegen.)

‘The verbal,’ schreibt Lerner, ‘while pretending to give life to the visual, often transcends it: words can describe a shield we can’t actually make, can’t even paint. (Just don’t take a shield made out of words into battle.)’

Mich fasziniert folgendes: Lerner sagt nicht, dass die Beschreibung nur so tue, als wäre das Ganze bildhaft, sondern dass sie selbst den Zustand der Bildhaftigkeit übersteigt. Es ist nicht so, dass eine Beschreibung nicht bildhaft ist, sondern dass unser Vermögen, uns etwas bildhaft vorzustellen, unsere Sehkraft hinter sich lässt.

Rembrandts Gemälde von Homer scheint selbst blind zu sein, wenn man das so sagen kann – die Figur ist matt, ein Arm geht in den Hintergrund über, die Augen sind lichtlos. Die Hände schweben vor dem Körper, die rechte etwas höher, suchend, die linke scheint den Mantel festzuhalten. Zwischen den Händen befindet sich ein schwarzer Farbfleck, bei dem man nur darüber spekulieren kann, was er abbilden, was er darstellen soll. Als würde Rembrandt den Betrachter an dieser Stelle selbst blind machen. Vielleicht schreiben wir den Blinden die Schwärze nicht deshalb zu, weil wir der Ansicht sind, dass sie sie sehen, sondern weil wir glauben, damit am besten zu umschreiben, was wir uns unter Blindheit vorstellen. Wir tappen im Dunkeln, weil wir nicht wissen, was wir sehen.

Als ich den Fleck betrachtete, sah ich plötzlich in der rechten, unteren Ecke eine andere Hand, eine dritte, mit einem Stift, und einem Blatt Papier, und ich begriff, dass Homer auf diesem Gemälde gerade etwas diktiert.

Und plötzlich erschien mir Homers Blick anders als zuvor. Ich sah vor mir, was Lerner meinte, als er sagte, unser Vorstellungsvermögen lasse unsere Sehkraft hinter sich. Rembrandt malte einen spähenden Homer, einen Homer, der gerade durch seine Blindheit Schilde sehen kann, die nicht gemalt werden können. Um zusammen mit Homer diese Schilde sehen zu können, müssen wir – und in dieser Hinsicht hat Wilde Recht – in erster Linie zuhören.

Offenbart sich uns ein Gedicht vor allem dann, wenn es uns zuerst zu Blinden macht?

„Die Blindheit, die das Auge öffnet“, schreibt Jaques Derrida, „ist nicht diejenige, die die Sehkraft verdunkelt. Die offenbare Blindheit, […] diejenige, die die Wahrheit selbst der Augen enthüllt, wäre der von Tränen verschleierte Blick.“ Der Blick der Ergriffenheit vielleicht – der nicht gleich in Betrachtung verfällt, sondern zuerst fragt: Wo kommen diese Tränen nur her?

Hunde, Kühe
03-11-17

Zu Verabredungen komme ich immer zu früh, mehr oder weniger absichtlich. (Ein Tag kann meiner Meinung nach maximal drei Termine fassen: morgens, mittags und abends. Wenn ich schon irgendwo sein muss, will ich gelegentlich falschspielen und im selben Tagesabschnitt etwas Unverbindliches planen). Mehr oder weniger absichtlich: Damit will ich sagen, dass ich mir keine Mühe gebe, extra früher anzukommen, sondern dass ich einfach „pünktlich“ aufbreche, ohne wirklich auf die Zeit zu achten. Und dann schaue ich, was passiert.

Ich schreibe das alles eigentlich nur, um mitzuteilen, dass ich viel zu früh in Den Haag angekommen bin.

Wir treffen uns erst später, zur Abendbrotzeit, und ich habe gerade – es ist Mittag – meine Reisetasche ausgepackt, Sachen hier und dort im Zimmer verteilt. Ich schreibe ein bisschen. Gleich gehe ich noch spazieren.

Ich hoffe, auf Orte zu stoßen, die ich von früheren, sporadischen Besuchen wiedererkenne und von denen ich noch nicht wusste, dass sie dort waren, wo sie sind. Man muss eine Stadt mehrmals besuchen, bevor sie sich einem offenbart. Erst gleicht die Karte einem flachen Stück Pappe, doch später zeigt sich, dass man eine richtige Schachtel daraus falten kann und bestimmte Straßen miteinander verbunden sind. Vielleicht machen Städte genau das: sie schrumpfen.

Oder ist man selbst derjenige, der sich ausdehnt? Die Stadt als eine zum Hineinwachsen gekaufte Jacke.

Während des Spaziergangs erkenne ich eine Baumreihe am Wasser wieder. Unter diesen Bäumen habe ich schon vor ungefähr vier oder fünf Jahren gestanden. (Auch damals war ich zu früh). Ich betrachte das Kanalufer. In solchen Momenten, an denen man an Orte zurückkehrt, wo man vor langer Zeit ein oder zwei Mal gewesen ist, spürt man, wie das Leben vorübergeht. Damit meine ich nichts Schwermütiges, nicht, dass mein Leben, dein Leben, vorübergeht, dass es abläuft – ich rede nicht vom Sterben. Ich meine die Form, in der sich uns das Leben zeigt: vorübergehend. So wie wir unter diesen Bäumen herlaufen, daran vorbeilaufen, an ihnen vorübergehen.

Vorhin habe ich mir ein gebrauchtes Exemplar von A. Alberts De honden jagen niet meer (Die Hunde jagen nicht mehr) gekauft. Ich habe es schon, jetzt habe ich es nochmal, es ist ein sehr gutes Buch, und solche Bücher muss man unerwartet weitergeben können.

De honden jagen niet meer handelt von einer Familie, dessen Lebensweise – es ist eine Schifferfamilie – langsam entschwindet, aus der Zeit fällt. Ist das nicht faszinierend? Dass man 1. eine Lebensweise haben kann, mit der man alles zu bezwingen versucht, und 2. dass einem das alles entgleiten kann, die Art und Weise, die Gewohnheiten. Während sich einem das Leben weiter aufdrängt. Es kann passieren, dass man auf einmal nicht mehr in diese Welt passt.

Zurück in meinem Zimmer lese ich De koe die over de waal zwom (Die Kuh, die über die Waal schwamm), von Willem Claassen, und erst jetzt fällt mir auf, wie sehr das Buch De honden ähnelt. Claassen wuchs in einer Bauernfamilie auf, und auch das – das Bauer-sein – ist nicht einfach nur ein Beruf, sondern eher eine Lebensweise, etwas, was den gesamten Tagesablauf bestimmt.

In einem der Fragmente, aus denen das Buch besteht, sagt Willems Oma zu ihm: „Du wirst später bestimmt auch ein Bauer”.

Willem antwortet: „Vielleicht.”

Ich erinnere mich daran, dass der jüngste Sohn aus der Familie von De honden nicht als „Interner“ zur Schifffahrtschule geht. Diese Entscheidung trifft er selbst. Vielleicht, weil er als Erster begreift, dass ihr Schifferdasein langsam zu Ende geht. Er muss sich auf etwas anderes vorbereiten als sein Vater, als sein Großvater, usw. (nur weiß er nicht, worauf).

Schreibarbeit
20-10-17

Vor einigen Jahren kam ein amerikanischer Schriftsteller nach Den Haag zu Crossing Border, da eines seiner Bücher gerade auf Niederländisch erschienen war. Zufällig wusste derjenige, der ihn während des Festivals betreute, dass ich sein Werk sehr gut fand, und so wurde ich gefragt, ob ich ihn interviewen wolle. Ob das, was ich damals aufgenommen habe, wirklich ein Interview geworden ist, weiß ich nicht – die endgültige, geschriebene Fassung war viel zu lang, wir hatten uns einfach verquatscht.

Eigentlich wollte ich ihn gar nicht wegen seiner Bücher interviewen – wir haben kaum über die neue Übersetzung gesprochen. In früheren Interviews war mir aufgefallen, dass die Art und Weise, wie er über das Schreiben sprach und dachte, meinen Ansichten sehr nahe kam. Darüber wollte ich reden.

Irgendwann zu Beginn des Gesprächs sagte er:

‘Well, the main thing with writing is to develop in yourself an experience that is worthy of depiction. If you live in a city, you can maybe go back and forth between the same three locations again and again and again, and if you mapped all your movements, it would turn out that you’d describe the same route every day, again and again. And that’s not very interesting. If instead of that you are constantly going on outings to walk all around and discover the actual city that surrounds you, you put yourself in the way of fortune, and it is possible to experience new and surprising things.’

Es geht mir vor allem um den ersten Satz: ‘the main thing with writing is to develop in yourself an experience that is worthy of depiction.’ Dieser Satz sagt eigentlich aus, dass das Schreiben nicht etwas ist, was man macht, ich meine, wobei man sich an den Tisch setzt, Stift und Papier nimmt, sich eine Handlung ausdenkt.

(Natürlich, auch diese Art des Schreibens gehört dazu, auch das Sitzen, auch die Stifte. Aber damit fängt es nicht an.)

Schreiben ist vom eigenen Leben nicht zu trennen. To develop in yourself an experience. Bedeutet das nicht einfach: zu leben? Aber leben als eine Art arbeiten. Leben als Schreibarbeit.

Ich habe aus dem Schreiben mehr und mehr eine Tätigkeit des Abwartens gemacht. Nachdem mein Roman fertig war, habe ich anhand meines Tagebuchs rekonstruiert, wie der Schreibprozess verlaufen ist, und ich stellte fest, dass ich eigentlich nur an 14 Tagen wirklich geschrieben habe, von denen 8 erfolgreich waren – immer mit Pausen von ungefähr einem Monat. Was ich in der Zwischenzeit getan habe, ist schwierig zu beschreiben. Ich wartete, bis ich wieder dazu bereit war, das zu sagen, was ich zu sagen hatte. Wenn ich mit dem Gefühl wach wurde, dass es an diesem Tag gelingen könnte, habe ich alle Termine abgesagt und es getan – geschrieben.

Eine Art der Selbstausschöpfung, vielleicht.

Ungefähr einen Monat, bevor das Buch veröffentlicht werden sollte, stolperte ich über einen Essay von Marguerite Duras, L’écrit. Ich blätterte schnell durch das Buch und stieß plötzlich auf den Titel meines eigenen Romans, weshalb ich kurz stockte. (Sobald man seinen Buchtitel hat, taucht er überall auf.) Duras schreibt über das Leben, über das Schreiben, das Folgende:

‘Das Schreiben erhebt sich wie der Wind, es ist nackt, es ist aus Tinte, es ist das Schreiben, und es geht vorüber, wie nichts anderes im Leben vorüber geht, nichts mehr, nur das Leben selbst.‘