Zu Verabredungen komme ich immer zu früh, mehr oder weniger absichtlich. (Ein Tag kann meiner Meinung nach maximal drei Termine fassen: morgens, mittags und abends. Wenn ich schon irgendwo sein muss, will ich gelegentlich falschspielen und im selben Tagesabschnitt etwas Unverbindliches planen). Mehr oder weniger absichtlich: Damit will ich sagen, dass ich mir keine Mühe gebe, extra früher anzukommen, sondern dass ich einfach „pünktlich“ aufbreche, ohne wirklich auf die Zeit zu achten. Und dann schaue ich, was passiert.
Ich schreibe das alles eigentlich nur, um mitzuteilen, dass ich viel zu früh in Den Haag angekommen bin.
Wir treffen uns erst später, zur Abendbrotzeit, und ich habe gerade – es ist Mittag – meine Reisetasche ausgepackt, Sachen hier und dort im Zimmer verteilt. Ich schreibe ein bisschen. Gleich gehe ich noch spazieren.
Ich hoffe, auf Orte zu stoßen, die ich von früheren, sporadischen Besuchen wiedererkenne und von denen ich noch nicht wusste, dass sie dort waren, wo sie sind. Man muss eine Stadt mehrmals besuchen, bevor sie sich einem offenbart. Erst gleicht die Karte einem flachen Stück Pappe, doch später zeigt sich, dass man eine richtige Schachtel daraus falten kann und bestimmte Straßen miteinander verbunden sind. Vielleicht machen Städte genau das: sie schrumpfen.
Oder ist man selbst derjenige, der sich ausdehnt? Die Stadt als eine zum Hineinwachsen gekaufte Jacke.
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Während des Spaziergangs erkenne ich eine Baumreihe am Wasser wieder. Unter diesen Bäumen habe ich schon vor ungefähr vier oder fünf Jahren gestanden. (Auch damals war ich zu früh). Ich betrachte das Kanalufer. In solchen Momenten, an denen man an Orte zurückkehrt, wo man vor langer Zeit ein oder zwei Mal gewesen ist, spürt man, wie das Leben vorübergeht. Damit meine ich nichts Schwermütiges, nicht, dass mein Leben, dein Leben, vorübergeht, dass es abläuft – ich rede nicht vom Sterben. Ich meine die Form, in der sich uns das Leben zeigt: vorübergehend. So wie wir unter diesen Bäumen herlaufen, daran vorbeilaufen, an ihnen vorübergehen.
Vorhin habe ich mir ein gebrauchtes Exemplar von A. Alberts De honden jagen niet meer (Die Hunde jagen nicht mehr) gekauft. Ich habe es schon, jetzt habe ich es nochmal, es ist ein sehr gutes Buch, und solche Bücher muss man unerwartet weitergeben können.
De honden jagen niet meer handelt von einer Familie, dessen Lebensweise – es ist eine Schifferfamilie – langsam entschwindet, aus der Zeit fällt. Ist das nicht faszinierend? Dass man 1. eine Lebensweise haben kann, mit der man alles zu bezwingen versucht, und 2. dass einem das alles entgleiten kann, die Art und Weise, die Gewohnheiten. Während sich einem das Leben weiter aufdrängt. Es kann passieren, dass man auf einmal nicht mehr in diese Welt passt.
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Zurück in meinem Zimmer lese ich De koe die over de waal zwom (Die Kuh, die über die Waal schwamm), von Willem Claassen, und erst jetzt fällt mir auf, wie sehr das Buch De honden ähnelt. Claassen wuchs in einer Bauernfamilie auf, und auch das – das Bauer-sein – ist nicht einfach nur ein Beruf, sondern eher eine Lebensweise, etwas, was den gesamten Tagesablauf bestimmt.
In einem der Fragmente, aus denen das Buch besteht, sagt Willems Oma zu ihm: „Du wirst später bestimmt auch ein Bauer”.
Willem antwortet: „Vielleicht.”
Ich erinnere mich daran, dass der jüngste Sohn aus der Familie von De honden nicht als „Interner“ zur Schifffahrtschule geht. Diese Entscheidung trifft er selbst. Vielleicht, weil er als Erster begreift, dass ihr Schifferdasein langsam zu Ende geht. Er muss sich auf etwas anderes vorbereiten als sein Vater, als sein Großvater, usw. (nur weiß er nicht, worauf).