Noch mehr desselben Mäanderns in zwei Kapiteln.
(1) In tragischen Zeiten finden Menschen wieder zueinander, salben offene Wunden und vergeben frühere Sünden. So war es bei meinem Vater, und so wird es hoffentlich, in Anbetracht einer unvollendeten jüngsten Vergangenheit, auch bei mir einst sein. …
Gestern Nachmittag (13.11.) beschloss ich, dass mein Stück auf diese Weise beginnen sollte. Es war die Einleitung, die auf eine Nachricht meines Bruders erfolgte, welche besagte, “sie” seien ins Haus meiner Mutter eingebrochen. Das Haus, in dem ich aufgewachsen bin und wo mein jüngster Bruder in jenem Moment vom Bellen eines Hundes geweckt wurde, den Einbrecher in der Toilette einzuschließen versuchten. Seine Worte: „War ‘ne Zigeunerbande, die rumzieht, war zum Glück krank und zuhause, um sie wegzujagen.“ Neben einem Gefühl von Sicher- oder Geborgenheit brannten sie auch mit ein wenig Schmuck durch. Das wagte ich als tragisch zu bezeichnen. Bitter…
Denn inzwischen steht eine Stadt in Brand, wie die Zeitungen berichten. Sie schreiben von einem Massaker. Davon, dass unsere Welt nie wieder dieselbe sein kann. Meinungsmacher benutzen das Ereignis, um Zusammengehörigkeit zu schaffen oder Zwietracht zu säen. Menschen schreiben Beileidsbekundungen, Freunde aus Paris teilen mit, dass sie in Sicherheit sind, Mauern werden hochgezogen. Ein Twitterer richtet sich an die Leute, die die „Flüchtlinge“ des Anschlags beschuldigen, sagt: „Seht ihr nicht, dass die Täter genau die Menschen sind, vor denen die Flüchtlinge flüchten?“ Alles bekommt einen Daumen hoch. In der Stadt der Lichter kommt man zusammen, um sich aneinander und am noch stets schwelenden Feuer aufzuwärmen. Der Rauch nimmt die Gestalt von Wut, Besorgnis, Unverständnis, Fortgang an. Wir können nicht weiter, wir müssen weiter!
Vierzehn Stunden früher: Es ist kurz nach elf, und ich habe gerade über eine Stunde ausgestreckt auf einem Teppichboden gelegen. Eine britische Singer-Songwriterin, deren Vor- und Nachname mit der gleichen Initiale beginnt, sang u.a. eine Nummer über einen einsamen Mann, dessen Königreich der Erde angehört. Es klingt alles treffend, und ich beschließe, dass mit der Melancholie jetzt Schluss sein muss, dass dies jetzt schon ein guter Abend war.
Mit einer einfachen Seele, die die Worte „Meine erste Frau nannte mich Rübe, wenn ich an sie denke, werden meine Augen trübe“ sprach und einen Saal berührte. Mit Kevin Barry, der mich lehrt, dass das Schreiben von Kurzgeschichten mit Seiltanzen vergleichbar ist. Jeder Satz ein Schritt auf dem Drahtseil. Beim kleinsten Fehltritt sieht die Situation, sowohl für Autor als auch Leser, hoffnungslos aus. Ich: Philippe Petit.
Dort, wo zwischen zwei Theatern be- und entladen wird, rauche ich hochmütig. Neben mir geht ein Amerikaner meines Alters auf und ab. Vorhin stand er mit etwas auf dem Podium, das das Internet als Indiefolk bezeichnet. Er sorgt sich um eine befreundete Gruppe, die zusammen mit Zuschauern in einem Konzertsaal mit chinesischer Architektur als Geisel gehalten wird. Die Täter tragen Bombengürtel und Kalaschnikows. Die Anzahl der Toten steigt exponentiell, verdoppelt sich, bis sie dreistellig ist. Ich sehe mich um, entdecke Männer, Frauen, alte und junge, und hier ist dort und dort ist hier. Ein Anschlag auf Sport, Essengehen, Schwatzen, Kunst. Auf Kameradschaft und sorglosen Eskapismus.
Genau wie alle wollten diese Menschen das Ende der Woche feiern, aber viele von ihnen erlebten nicht mal den Beginn des Wochenendes. Ich höre, es sei der blutigste Anschlag seit zehn Jahren, und ich fühle mich dumm, weil ich mich nicht einmal daran erinnere, was damals passiert ist. Wir alle trinken weiter, und auf der Bühne steht wieder ein Dichter, danach ein Autor mit dem gleichen Geschmack für Scorsese, Kerouac und Presley. Danach tanze ich, als würde mich nichts bekümmern, und ich versuche, zwischen Freunden, Bekannten und Kollegen zu unterscheiden.
Aus einem Hotelzimmer meldet sich Drake zu Wort und teilt einem sozialen Netzwerk mit, dass zehn Freunde in Paris unversehrt seien. Von zweien habe ich noch nie gehört.